Apfel, Nuss und Marian

Erst als ich in Marians Zimmer stand, glaubte ich, wovon ich nur gehört hatte. Marian lebt das ganze Jahr hindurch weihnachtlich, mindestens adventlich. Und das kommt von einer ebenso ausgeprägten wie seltenen Liebe, nein, Leidenschaft. Marian ist mein Neffe (2. Grades). Davon habe ich mehrere. Marian ist um die 15 Jahre alt. Davon kenne ich viele. Und dennoch hat Marian bereits lange vor seinem 15. Lebensjahr einen besonderen Ruf, ein irre seltenes Image. Nicht wegen seines seltenen Vornamens, sondern wegen seiner Sammlung von Knackern. Nussknackern. Es begann mit einigen wenigen Exemplaren von Nussknackern, die Marian bereits sammelte, als er Kind war. Das Schulkind las dann irgendwo von einem eingetragenen Verein der Nussknacker-Sammler, die eine Versammlung in Göttingen abhalten wollten. Marian lebt zwar mit seiner Familie in Hamburg, aber dies hielt ihn nicht ab, zu dieser Versammlung zu wollen. Eben echter Sammler, dessen Leidenschaft derart flammt, dass selbst besorgte Mütter den Weg frei gaben. Marians Mutter recherchierte und erfuhr, dass zu dieser Nussknacker-Sammler-Versammlung auch ein pensionierter Postbeamter von Hamburg nach Göttingen fahren würde und gab diesem den Jungen mit (in meiner Familie gelten Beamte immer noch was - Von wegen Seriosität und Schutz). Im Gepäck hatten sie beide, der alte und der junge Sammler, einige Nussknacker. Von wegen Tauschen Oberwiegend sah Marian auf dem ersehnten Treffen der professionellen Nussknacker alte Knacker - wie den netten Postbeamten. Und die sahen und liebten den Jungen sofort, der so unerhört jung und dazu geboren war, Kronprinz zu werden, Nachfolger, Repräsentant der nächsten Nussknacker-Sammler-Generation. Welcher Verein mit alten Knackern von heute hat keine Nachwuchssorgen? Alle. Besonders Sammler-Vereine sorgen sich. Echte Sammler sind Menschen, die leidenschaftlich sammeln in der Hoffnung und Aussicht, über den Tod hinaus auf der Erde präsent bleiben zu können - mindestens durch ihre Sammlung. Marian kehrte zurück mit Hoffnungen anderer umhüllt und mit einigen Nussknackern mehr im Gepäck: Geschenkte, getauschte, darunter erste wertvolle aus dem Erzgebirge und noch weiter weg. Marian machte Nussknacker-Karriere und weitete seine Sammlung und seine ungeheuren Kenntnisse über die Völker und Menschen, die diese Nussknacker schnitzten, aus. Nussknacker wirken oft freundlich, ebenso oft grimmig und bedrohlich - Abbilder von uns, die wir unsere Nüsse von ihnen knacken lassen. Harte Nüsse, weiche Nüsse. Wie im richtigen Leben. Marian hält sie alle ganzjährig aus, die grimmigen und freundlichen Knacker, die harten und weichen Nüsse. Wir haben die Knacker nur diese vier Wochen lang. Üben wir mit ihnen, unseren Abbildern, das Knacken unserer Nüsse, der harten und weichen. Das übt fürs ganze Jahr.

11. Dezember 2001